Vidi, audi, dixi.

- Spontan erscheinend -

Nr. 19.


5. Januar, Anno '16.


Ausgaben:

Project „GalanteWelt“

Galante Peruque

Generalbaß-Musik

Lully – Corelli

Auf Heller & Pfenning

Schrot und Korn

Historischer_Tanz

Museumsbesuch

Galante Epoche?

Warum galante Welt

Wider das 'b'-Wort

Histor. Correspondenz

Messen & rechnen

Reenactment

Der Schreibmeister

Gutnachbarschaftlich

Künftige Erscheinung

Galante Reinlichkeit

Diktatur der Historiker

Diktatur der Historiker

Auf der Berliner Historiale hörte ich vor Jahren eine Diskussion zur preußischen Heeresreform der Jahre 1807–1813. Eingangs referierte ein gewisser Herr Doktor der Militärgeschichte, der aus dem hohlen Bauch heraus folgendes behauptete: Man hätte den Begriff "Reform" vorher nicht in diesem Sinne gekannt, sondern nur im Zusammenhang mit der Reformation. In Caspar Stielers "Zeitungs Lust und Nutz" [1695] liest man im Wörterbuch-Anhang folgendes:

"Reforme, Veränderung/ Besserung. Von reformiren, ändern/ bessern. Sonsten nennen sich die Calvinisten auch Reformirte/ und ein reformirter Officirer ist der jenige/ so nicht wirklichen Befehl hat oder tuht/ und deshalben auch/ ausser Quartiere/ keinen Sold empfähet."

Das 17. Jahrhundert kennt also durchaus einen militärischen Sinnzusammenhang. Was übrigens Leonhard Frischs "Teutsch=Frantzösisches Wörter=Buch" [1719] im französisch-deuschen Teil unterstützt:

"Reformé ...; ein Officier, dessen übrige Soldaten untergesteckt."

Im frühen 18. Jahrhundert gab es auch die Forderung nach Reform im Tanzmeisterwesen, wo oft Scharlatanerie ein Unwesen trieb. Alle möglichen Leute gaben sich als Tanzmeister aus und brachten den Leuten Unfug bei, der den damals üblichen Grundregeln galanten Tanzens zuwider lief. Louis Bonin war ein solcher Tanzmeister, Meletaon wiederum ein Schriftsteller, der Schüler Bonins gewesen war:

„Eben deswegen sollte man unter dem gemeinen Tanzen/ billich eine Reformation anstellen/ und alle die garstige Gewonheiten aus mustern.....“ (Louis Bonin, 1712; S. 241, oben)

„Doch die Ignoranz ist bereits zur Mode worden/ drum darf man auch auf keine Reformation unter denen sich selbst gemachten unwürdigen Tantz-Meistern hoffen.“ (Meletaon, 1713; einleitender Widmungs-Teil, 5. Seite, unten)

Die Realität ist also, daß es lange vor der preußischen Heeresreform des 19. Jahrhunderts eine allgemeine Bedeutung von "Reformirung/ Reforme" gab und die religiöse nur im Besonderen. In der Presse um 1700 liest man häufig davon - und zwar im Zusammenhang mit Tagespolitik. Ich habe schon öfters festgestellt, daß der Akademikerstand zu selbstherrlichen Behauptungen neigt. Die greifen einfach blind in irgendeine Kiste, ohne zu Recherchieren. Dererlei Schnappsideen geben Sie dann wie Verordnungen als wissenschaftliche Erkenntnis aus. Die gewisse Diskussion wäre anders verlaufen, hätte man auch dem Publikum Anmerkungen erlaubt. So demokratisch geht es in Deutschland jedoch nicht zu. Der Akademikerstand ist quasi eine neue Aristokratie, die zu Selbstherrlichkeit neigt. Dieser Stand muß sich in keiner Weise rechtfertigen und scheint dafür auch keinerlei Notwendigkeit zu sehen. Alles was die ausgeben, gilt als Wahrheit. Dementsprechend findet man Unrichtigkeiten nicht nur in Büchern und Vorträgen von Historikern, sondern in praktisch allen öffentlichen Medien. Auch Journalisten öffentlicher Medienanstalten achten die Aussagen eines Historikers wie Gesetz. Wenn ein Historiker etwas behauptet, dann ist es auch so. Schließlich ist er ja Historiker. Raten Sie mal, wieviel historischer Quatsch im öffentlichen Raum kursiert. Wer sich ständig mit Quellen beschäftigt weiß: Das geht auf keine Kuhhaut.

Jetzt kommt häufig der Einwand: "Quellen geben nicht immer die Wirklichkeit der Vergangenheit wider." Man braucht dazu Quellenkompetenz. Und ich behaupte einfach mal, daß die meine höher ist, als die des gewissen Doktors der Militärgeschichte. Jedenfalls bin ich nicht quellenfaul und behaupte nicht einfach irgendetwas unrecherchiert. Und nach Jahrzehnten an Quellenerfahrung, weiß ich eine Quelle des 17. oder frühen 18. Jahrhunderts kritisch zu hinterfragen. Im vorliegenden Fall ist es ganz einfach: Wenn es den Begriff Reform um 1700 nur im Sinne religiöser Reformation gegeben hätte, hätten weltliche Bedeutungsvarianten damals nicht so zahlreich gedruckt werden können. Die Tatsache, daß man aber so viele Beispiele findet, beweist, daß der Herr Doktor der Militärgeschichte unrecherchiert fabuliert hat.

Als das fremdenfeindliche Bündnis PEGIDA sich anschickte, zur "Rettung des Abendlandes" aufzurufen, versuchte der öffentlich-rechtliche Rundfunk, dem Wort "Abendland" den Geruch des Völkischen anzuhaften. Allerhand Historiker und sonstige Autoren verstiegen sich zu der Behauptung, dieser Begriff wäre erst im 19. Jahrhundert aufgekommen. Prompt fand und schickte ich dem Deutschlandfunk ein von Google digitalisiertes Originalbuch von 1575: "CALENDARIVM HISTORICVM. Oder Der Heiligen Marterer Historien....". Darin findet sich folgender Satz:

"Da nun der Keyser seinen Teufflischen Abgöttern daselbst geopffert/ vnd alle Knechte/ beyde auß Morgenlandt vnd Abendlandt beruffen/ daß sie allda bey seiner Götter Altar/ einen Eydt schweren sollten/ daß sie wolten wider die vngehorsamen Bagaudas streiten/ vnd die Christen/ so deß Keysers Götter verachteten/ wolten helffen verfolgen."

Es dreht sich hier um die Zeit vor der Christinanisierung des römischen Kaisertums. Der Kaiser in Rom verlangt von seinen Untertanen in Morgen- und Abendland, ihn bei der Christenverfolgung zu unterstützen. Dazu sollen die kaiserlichen Untertanen des Morgen- und Abendlandes einen Eid schwören. Es handelt sich also um einen rein geographischen Abendlandbegriff, ohne daß ein kultureller Gegensatz oder Konflikt geschürt wird. Ich habe den Verdacht, daß Historiker zuweilen schwindeln, um ihre persönlichen Vorurteile zum Schein zu unterfüttern. Medienvertreter übernehmen solche Behauptungen unkritisch, weil sie einem Historiker als Fachmann vertrauen. Doch fiel mir ein weitaus unverdächtigerer Vorfall beim Deutschlandfunk auf, der in keinster Weise mit Politik zu tun hat. Es ging um den Begriff "Rheinland". Hierzu behauptete ein Historiker aus dem Rheinland, das Wort "Rheinland" sei erst im 19. Jahrhundert aufgekommen. Da mich solche Behauptungen mittlerweile sofort mißtrauisch machen, filzte ich Google nach dem Begriff "vnd Rheinland". (Ich verrate hier meinen Trick, der darin besteht, daß ich dem Suchwort ein weiteres in der Rechtschreibung vor ca. 1650 voranstelle, was alle Quellen nach jener Rechtschreibreform ausschließt.) Und so stieß ich auf "Commentarius Juricido-Historico-Politicus" von 1635, sowie "Des Heiligen Römischen Reichs Ordnungen" von 1539. Politisch war dieser Historikerschwindel völlig unverdächtig, ging es doch rein um Heimatgeschichte. Warum also tun Heimathistoriker solches?

Gewisse Fragen kamen mir bei dem Buch "Deutsche Kolonien", von Gisela Graichen und Horst Gründer. Im neunten Kapitel beschreibt man dort eine Festivität im oberhessischen Haunau. Im Jahre 1669 soll man dort den Erwerb von Kolonien gefeiert haben. In diesem Zusammenhang erwähnen die Verfasser nicht allein Wein, sondern auch sogar Sekt, welcher im Schloß in Strömen geflossen sein soll. Als Kennerin meiner Zeit, weiß ich, daß Sekt eigentlich nicht getrunken wurde. Die 'Erfindung' des Schaumweines wird allgemein für das 18. Jahrhundert angegeben. Kohlensäure bildete sich in Weinflaschen zuweilen ungefragt, was man vermeiden wollte, zumal Flaschen dann durchaus explodieren konnten. Demnach war Wein mit Kohlensäure damals nicht etwa als Sekt begehrt, sondern als schlechter, verdorbener Wein verschrien. Ich vermute, man hat diesen dem einfachen Volk überlassen. Bei Hof bevorzugte man guten Burgunderwein, der im Herbst schnell von den Höfen Europas aufgekauft wurde, sodaß er kaum noch zu bekommen war. Gewiß handelt es sich um einen relativ unbedeutenden Nebenaspekt des Kolonialthemas. Dennoch würde es mich reizen, den Historiker Horst Gründer einmal zu Fragen, auf welcher Quelle der Sektverweis beruht, oder ob er seiner Fantasie hier einfach freien Lauf ließ. Dergleichen geht, wie man an diesem Beispiel wiederum sieht, leicht in die Hose. Man kann aus der persönlichen Lebensrealität des 20./21. Jahrhunderts nicht blinde Schlüsse auf das Leben vor 350 Jahren ziehen. Ich glaube, wir Liebhaber sind da letztlich gewissenhafter, als Berufshistoriker. Wir möchten ja nach Möglichkeit jedes Detail nachleben und haben die Zeit und Muße, alles bis ins Kleinste nachzurecherchieren. Wir stehen hierbei nicht unter Zeitdruck, wie professionelle Autoren. Wem Authentizität Herzensangelegenheit ist, dem trübt jede kleine Verfälschung die Freude an der Sache. Für mich persönlich ist der Weinaspekt absolut bedeutungsvoll, zumal in unserer Szene historischer Tanzpraxis. Abgesehen von öffenlichen Auftritten, stellen wir im privaten Kreis ganz gerne auch Feiern (etwa ein Gartenfest) an, wobei wir auf solche Dinge achten.

Warum aber gibt es so viele Verfälschungen, die im Zusammenhang mit dem heiligen Römischen Reich stehen? Es gibt für mich nur eine plausible Erklärung: Das "Römisch=Teutsche Reich" ist ein blinder Fleck im Geschichtsbewußtsein der Deutschen. Das deutsche Geschichtsbewußtsein setzt mit dem Wiener Kongress ein, setzt sich fort mit Restauration und 1848er Revolution, der Reichsgründung von 1870/71, Kaiser Wilhelm II. und dem Beginn des I. Weltkrieges. Friedrich der Große und Kaiserin Sisi sind populär, davor kennen sich nur wenige Spezialisten aus. Populär ist in der Bevölkerung das Rokoko der Zeit Mozarts, sowie das Biedermaier. Das heißt, kulturhistorisch setzt das Bewußtsein im späten 18. Jahrhundert ein. So umfassend, wie ich die Zeit um 1700 kenne, kennt sich scheinbar niemand aus. Mir ist jedenfalls seit den späten 1990ern niemand begegnet. Würde ich mich als "Reichsbürgerin" ausschreien, wäre ich wohl die einzige Bürgerin des "Römisch=Teutschen Reiches", wie in der Presse um 1700 in der Tat formuliert wird. Es ist eben nicht so, daß damals kein deutsches Zusammengehörigkeitsgefühl existierte. Die deutschen Reichskreise innerhalb des Heiligen Römischen Reichs waren eine politisch-kulturelle Einheit. Wann immer Gefahr drohte, hieß es "wir Teutschen müssen zusammen stehen". Dann ließ man das "hochpreißliche Ertzhauß Oesterreich" hochleben. Warum können sich die heutigen Deutschen nicht mit diesem alten Reich identifizieren, dessen Politik doch westlich orientiert war, sowie militärisch defensiv? Unsere Verbündeten waren damals England, Schweden und die Generalstaaten der Niederlande. Wieso ehrt man statt dessen Friedrich den Großen und Wilhelm II., die beide imperialistisch und hochexpansiv waren? Und wieso gehen so viele Historiker davon aus, die eigentliche deutsche Geschichte beginne mit dem 19. Jahrhundert? Daß man so oft unrecherichert mutmaßt, diese oder jene sprachliche Wendung könne davor noch nicht existiert haben? Dafür habe ich keine andere Erklärung als die, daß auch die Bundesrepublik Deutschland unbewußt noch immer auf völkischen Säulen ruhen muß. Deshalb sind Erscheinungen wie PEGIDA so peinlich, weil es hier offenbar wird. Das völkische 19. Jahrhundert hat das 'verwelschte' Ancien Régime diffamiert und verdammt und dies scheint noch nachzuwirken. Das ist freilich nur meine These, doch eine andere Erklärung fiele mir nicht ein. Ich gebe keine Vermutungen als Fakten aus.

Abschließend noch ein Beispiel aus dem Jahr 2000, vor meinem Umzug nach Berlin: Den Namen der Stadt lasse ich einfach mal aus. Es handelte sich damals ebenfalls um einen Doktor der Geschichte, der dem dortigen Stadtarchiv vorstand. Schon damals hatte ich mich tief in Quellen hinein recherchiert und produzierte eine Hörfunksendung, welche auf Originalzeitungsmeldungen des Jahres 1700 basierte. Ich besaß nicht nur lückenlos Fotokopien sämtlicher Ausgaben der Braunschweiger "Ordinari Post=Zeitung" von April bis Silvester 1700. Ich hatte auch die Namen anderer Zeitungen im Kopf, welche damals in Frankfurt am Main, Berlin, Wien, Leipzig etc. herauskamen. Was ich damals noch nicht besaß, war Lesekompetenz in Sachen historischer Handschriften. Und so erhoffte ich mir vom Stadtarchiv handschriftliche Dokumente aus der Zeit um 1700. Als der Herr Doktor von Zeitungen um 1700 hörte, behauptete er steif ins Telefon hinein: "Es gab um 1700 doch überhaupt noch keine Zeitungen." Ihn aufzuklären war mir damals ein Leichtes. Ich nannte ihm auch den Beginn des deutschen Zeitungswesens, welcher in den allerersten Jahren des 17. Jahrhunderts geschah. Von da an schien er eingeschnappt. Ähnlich wie eine gewisse Berliner Zahnärztin im Jahr darauf. Die schloß aus einer Röntenaufnahme messerscharf, unter allen meinen Zahnfüllungen wäre Karies. Auch unter dem großen Molaren rechts oben - und überall sollten übrigens Goldinlays hinein. Ihr hemmungsloser Goldrausch machte mich mißtrauisch und so wechselte ich den Zahnarzt. Die Amalgamfüllung besagten Molares lebt 15 Jahre später noch immer und der Zahn ist in bester Verfassung. Fachleute müssen hinterfragt werden und das gilt auch für Historiker.




"Ich haße die künfftige Welt, ſie verkehren alles und ſchelten unß barockicht."