Vidi, audi, dixi.

- Allsonntäglich -

Nr. 7.


11. July, Anno '09.


Ausgaben:

Project „GalanteWelt“

Galante Peruque

Generalbaß-Musik

Lully – Corelli

Auf Heller & Pfenning

Schrot und Korn

Historischer_Tanz

Museumsbesuch

Galante Epoche?

Warum galante Welt

Wider das 'b'-Wort

Histor. Correspondenz

Messen & rechnen

Reenactment

Der Schreibmeister

Gutnachbarschaftlich

Künftige Erscheinung

Galante Reinlichkeit

Diktatur der Historiker

Ist historischer Tanz historisch?

Vor Jahren wurde eine Menuet übende Anfängergruppe folgendermaßen angewiesen: „Und hochmütig dabei blicken!“ Daneben stellte man dort die Grundregel auf, der arg betroffene Tanzstil müsse notwendig immer ausdrucks- und betonungslos, mit einer gewissen Negligenz, herunter getanzt werden.

„Es verstossen sich aber hierinnen die Meinsten gar zu sehr/ daß sie entweder bey einerley Leyer bleiben/ oder aber die neuen Sachen so ein richten/ daß weder Schmalz noch Salz dabey zu spüren.“ ¹

Tanzmeister Louis Bonin fordert demnach das exacte Gegenteil, nämlich „Salz“ und „Schmalz“! An anderer Stelle seines Buches von 1712 wird er sogar noch deutlicher:

„Viel besser ist es/ ein einig Menuet recht/ rein/ sauber/ mit geschicktem Fuß/ und anmutiger Aire, getanzet/ als zehen andere Tänze/ da weder Safft noch Krafft darinnen.“

Saft- und kraftloses Heruntertanzen - ausdruckslos und allzu winzig in den Bewegungen - darin besteht ja gerade das Ärgernis modernen „Barocktanzes“. Wären die Costümirungen im 21. Jahrhundert nicht gar so schillernd (worin man sträflich übertreibt), würde sich niemand eine solchermaßen fade Aufführung ansehen wollen. Daß diese postneuzeitliche Tanzauffassung dem authentischen galanten Tantzen des frühen 18. Jahrhunderts zuwider läuft, entdeckt man auch in Gottfried Tauberts Buch von 1717. Unter der Überschrift „Von der bonne Grace und wolgefälligen Air bey dem Tantzen“ führt er aus:

„Ja! es führet diese Air (oder Art) recht was magnetisches bey sich, indem sie mit ihrem Nachdruck und gleichsam mancherley bezaubernden Stellagen und Gestibus nicht allein, wie der bunte Frühling, aller Augen gleichsam nach sich ziehet und contentiret ...“

... was man obbeklagter Nachwelt eben nicht nachsagen kann – das sie etwa was „magnetisches, bezauberndes“, geschweige denn „Nachdruck“ vorzuweisen hätten. Ja, Taubert spricht sogar von Schärfe:

„... wenn nemlich alle Posituren, Motiones und Gestus durch Abnehmen und Zugeben der Schärffe und Sänfftigung angenehm formiret werden.“

Aha, es gehören also doch verschiedene Betonungen dazu – nicht allein Sanftheit, sondern auch der scharfe Accent. Dazu gehört beispielsweise, daß man die Schritte und Gesten nicht zu winzig² formirt, was im 21. Jahrhundert zu den Cardinalsfehlern zählt: Die Bewegungen geraten dermaßen unauffällig, daß von Action kaum noch zu sprechen ist. Vielmehr muten diese Tanzgruppen über weite Passagen an, als würden bewegungsscheue Hofschranzen gelangweilt herum stehen, um hin und wann einen winzigen Wink von sich zu geben, den man mit dem Opernglase erst suchen muß. Und damit all dies nicht allzu langweilig wird, übertüncht man es dick mit aufgesetztem Affectiren und Charmiren. Womit man sich am allermeisten gegen das authentisch galante Frantzösische Tantzen versündigt.

„Was wider die Tugend lauffet/ das ist schon auf dem Wege der Laster/ dahero/ alles Tanzen/ welches zur Wollust/ aus Müssiggang/ und zur unrechten Zeit geschiehet/ das ist sündlich...“

Wenn Louis Bonin hierin citirt wird (Taubert redet da nicht anders), bedeutet dies nicht etwa, daß auch Tänzer des 21. Jahrhunderts die veraltete Moral des 18ten nach zuleben hätten. Es zeigt aber, daß die Klischees von einer ach so amorösen Vergangenheit nicht stimmen. Die Moral ist im 18. Jahrhundert einfach wesentlich strenger - alles andere ist Phantasterei.

Nachahmenswert sind an den Regeln des authentischen galanten Tantzens allemal die gute Air, Caprice und Grace. Dies hat zwar mit Mäßigung, Geschmack und „Zierlichkeit“ zu geschehen, doch heißt dies keinesfalls, daß Außdruck und Gravität³ zu unterlassen wären. Wer nicht recht Teutsch versteht, ist vielleicht versucht, „zierlich“ mit 'klein' oder 'schmächtig' zu übersetzten. Das ist aber völlig verkehrt, weil es sich um ein frühneuzeitliches Synonym für zierreich handelt, „Zierlichkeit“ demnach also die Zier meint. Winzige, blasse Miniaturgesten aber sind niemals eine Zier.⁴ Was das leidige Affectiren angeht, womit das 21. Jahrhundert flüchtiges und lahmes Tanzen übertüncht, so ist dies in der galanten Welt eine der ärgsten Sünden überhaupt – wie alles unnatürlich Verstellte. Jede Art von Coquetterie läuft dem galanten Ideal völlig zuwider.

„Zwischen einem honeten Frauenzimmer und einer Coquete ist ein merklicher Unterschied/ wer nun vernünfftig/ wird die Distinction durch seine Prudence schon zu finden wißen.“

Wer jetzt „Prudence“ mit 'Prüdheit' übersetzt, liegt hier vollkommen falsch. Auch das moderne Französischwörterbuch übersetzt correct: „Vorsicht, Umsicht, Behutsamkeit“. Die spätere Bedeutungsverengung von „prude“ ist schlicht kleinbürgerlicher Kleingeist, wie der Blick ins Originalwörterbuch weist:

„Prude, adj. c. & subst. (bieder) verständig, klug, sittsam, erbar, fromm, verstellt-fromm, verschmitzt.“ (Johann Leonhard Frisch, Frantzösisch=Teutsches Wörterbuch, 1719)

Es geht hier gar nicht darum, andere zu bekehren, um sie auf die Straße der Tugend und Moral zu führen. Eine galante Person lästert auch nicht über die Schwächen anderer – sie meidet lediglich den niveaulosen Umgang. Aber sie besteht allemal auf Vernunft und Wahrhaftigkeit. Im vorliegenden Fall ist zu sagen, daß dem Liebhaber authentischen galanten Tantzens alles Aufgesetzte notwendig ein Graus sein muß. Wo persönliche Eitelkeit und Unreife sich coquett in den Vordergrund spielen, leidet schlechterdings die Qualität. Doch wessen Geschmacksempfinden dies nicht beleidigt, der werde eben auf seine Art selig. Letztlich geht es ja nur darum, ungestört tanzen zu können, ohne abgelenkt bzw. irritirt zu werden. Daß aufrichtig Tanzbegeisterte zuweilen belästigt werden, wenn einige nur deshalb mittanzen, weil sie auf der Suche nach Abenteuern sind, ist ein uralter Conflict. Solcherart Conflicte abzumildern, ist Aufgabe galanter Moral.

Der Erläuterung bedarf hier noch der Begriff Caprice, den man in diesem Context am anschaulichsten mit Spontanität umschreibt. In diesem Puncte unterscheidet sich der authentisch galante Tantz wiederum grundlegend von dem verwässerten Aufguß der Nachwelt. Denn um Anno 2000 besteht man darauf, lediglich die vorgegebenen Schablonen frühneuzeitlicher Tanzschriften nach zutanzen. Daß aber die originalen Tanzmeister das creative Tanzen nicht allein erlauben, sondern sogar empfehlen, will der Nachwelt nicht in den Kopf.

„... Caprice, welches nicht anders zunennen/ als eine Veränderung desjenigen/ welches man gelernet/ daß man solches excoliret/ erweitert/ verkleinert/ davon und darzu tuht/ und sich an keinen gewissen Pas bindet...“ ("Pas" heißt Schritt, so wie der "Pas de Menuet" ein Menuetschritt ist).

Man mag hier einwenden, dies schicke sich allein für den Meister daselbst - doch weit gefehlt:

„Vor einen Anfänger oder Scholaren/ ist die Caprice, an und vor sich selbsten eine schwere Sache/ es wäre dann/ daß sie bereits was im Tanzen getahn/ und ein gutes Naturell dazu behülfflich/ doch dörffte es nicht schaden/ wann sie ihre Einfälle dem Maître in die Censur lieferten/ dann weilen doch dieser am besten weis/ was ihnen wol oder übel anstehet/ so vergehen sie sich nicht einmal/ und bekommen noch darzu einen näheren Unterricht/ woran ihnen an diesem oder jenem fehlet.“

Oft folgt darauf die dreiste Retourkutsche, man könne doch nicht mehr wissen, wie diese Caprice richtig anzuwenden sei, weil die Nachwelt die alten Meister nicht mehr befragen könne und sich füglich aller Spontanität enthalten müßte. Sollte dies allgemeingültige Moral sein, dürfte auch niemand mehr Original-Chorégraphies nachtanzen, weil ja kein alter Tanzmeister mehr da ist, um in deren Interpretation ein zuführen. Wer aber viele Originaltänze durchgetanzt und einen Funken Caprice im Leibe hat, wird irgendwann eigene Ideen entwickeln können, sobald er die grundlegende Technik begriffen hat. Es sei denn, er ist allzu prudement erzogen worden - letzteres im Sinne von übervorsichtig, ängstlich, verzagt.

Ein sogenannter 'Tanzmeister' der postgalanten Nachwelt redete einst von „historischer Aufführungspraxis“ und berief sich dabei gern auf die Quellen der alten Meister. Als man ihn aber eines Tages auf die Regeln jener tanzmeisterlichen Originalwerke stieß, sagte er: „Das tanzt man heute nicht mehr so, wir machen das anders.“ ⁵ Wer sich in der breiten (populären) historischen Tanzscene exact nach den Originalquellen richtet, gilt dort überwiegend als eigenwillig.

Um auf die eingangs citirte Anweisung zurück zukommen: „Und hochmütig dabei blicken!“⁶ Das bedeutete in galanten Kreisen des frühen 18. Jahrhunderts sociale Ausgrenzung, wo man Hochmut am allerwenigsten ausstehen kann.


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¹ Die Rechtschreibung in Bonins hervorragendem Buch entspricht nicht ganz der verbreiteten Orthographie des frühen 18. Jahrhunderts. Zwar kennt man hier kein verbindliches Regelwerk, wie den Duden, aber dennoch eine weitestgehend verbreitete Regelrechtschreibung. Bei Bonin vermißt man etliche tz-Schreibungen, die freilich in Überschriften correct gesetzt wurden, sodaß sich möglicherweise vermuten läßt, daß der Setzer im Mengentext Bleitypen, bzw. Ligaturen, eingespart hat.

² Die nachweltliche Vorstellung, die Tanzschritte der Höflinge hätten gewissermaßen in winzigen Mäuseschritten bestanden, ist geradezu eine Carricatur, die absolut unzutreffend ist. Wer einmal versucht hat, eine historisch vorgeschriebene Acht um zwei genau festgelegte Mittänzer zu tanzen, wird ein Lied davon singen können: Daß nämlich eine solche Original-Chorégraphie mit winzigen Trippelschritten niemals zu schaffen ist, sondern die Gruppentänzer dermaßen unter Zeitdruck stehen, daß sie ihre Menuetschritte betont forsch voran setzten müssen, um die 300 Jahre alten Wege zu schaffen.

³ Der Außdruck „Gravität“ kommt bei Taubert, auf Seite 537 oben, in einem gewissen Zusammenhang auch vor. Von einem reiferen Mann erwartet er diese ganz besonders, da ihm jugendliche Flüchtigkeit am wenigsten ansteht. Tanz ohne jeglichen Anteil an Gravität aber ist oberflächlich.

Sowohl Bonin, als auch Taubert fordern, daß der Tänzer den Zeigefinger auf den Daumen legen solle. Diese Haltung führt nicht allein dazu, daß die Hand nicht herum schlackern wird, sondern gleichwohl zu einer weit gravitätischeren Armführung. Das Tanzen wirkt dadurch insgesamt energetischer, kräfiger und gefestigter, was auch die Schrittführung mit prägt. Scharfe Accente sind so recht gut zu setzten. Allerdings dürfen die Finger dabei nicht verkrampft aneinander gepreßt werden. Das locker flatternde Händchen aber ist eine Manier des classischen Balletts - wie die spätneuzeitliche Ballerina überhaupt eine flatterhafte, unstete Künstlerseele vorstellt - was der Würde und Ehre einer galanten Dame niemals zustatten kommt.

In der Frage der vorstehenden Haltung von Daumen und Zeigefinger kam es hier zu einer hitzigen Discussion. Was immerhin von entscheidender Bedeutung ist, denn hier scheiden sich die Tanzphilosophien wirklich grundlegend: Nämlich die Frage ob man den oberflächlichen Klischees der Nachwelt folgen will, oder eben energiereicher und ausdrucksvoller tanzen will. Die Fronten blieben hier unversöhnlich, wie man sich denken kann. [Anmerkung in 2015: Die Autorin umtanzt hier respectvoll den Bruch mit ihrem zweiten Lehrer, der 2009 gerade erst drei Jahre zurück lag. Immerhin läßt sich nicht leugnen, daß dieser Lehrer mir wesentliche Grundtechniken vermittelte, die absolut mit dem übereinstimmen, was Taubert im Jahre 1717 beschreibt. Auf dieser Grundlage konnte ich mir Taubert erst erarbeiten, wobei ich meinem Lehrer als Activsprecherin von Frühneuhochdeutsch (Teutsch) natürlich überlegen war. Der wesentlich ältere Lehrer rückte daraufhin von Taubert ab, den er bis dahin ständig citirt hatte, um sich künftig auf dessen Französische Zeitgenossen zu berufen. Freilich ist mein dritter Lehrer hier wesentlich competenter, der fließend französischsprachig ist: Mit Milo Pablo Momm habe ich mich nie überworfen, deshalb kann ich ihn namentlich erwähnen. Dieser damals noch im Studium befindliche junge Mann war ähnlich quellenfanatisch wie ich und seine Verweise auf Französische Tanzmeister halfen mir, Tauberts Werk bruchlos zu begreifen. Leider trennten uns auch im 18. Jahrhundert mindestens 20 Jahre, da Milo dem jüngeren Maitre Pierre Rameau (1674–1748) folgte. Taubert fußt auf Rameaus älterem Collegen Raoul-Auger Feuillet (1653-1710), dessen Philosophie ich noch heute anhänge. Eines Tages tanzte Milo vor, wie Feuillet die Armtechnik dachte, um gleich anschließend zu demonstriren, wie die Gruppe nach Rameau tanzen sollte. In diesem Moment wurde mir klarer als je zuvor, daß Feuillet absolut meine Welt war. Seither sehe ich Gottfried Taubert (1679-1746) als meinen Lehrer an. Außer Frage steht, daß ich ohne Milos Genialität Taubert nicht bruchlos begreifen könnte. Noch so tiefgründige Sprachkenntnisse allein genügen nicht, um sich allein, aus dem Turm heraus, in Tanzpraxis hinein zu arbeiten. Was in den Decaden nach dem II. Weltkrieg ja doch von mehreren Generationen der Tanzforschung geleistet wurde. Auch Quellenforscher Milo hatte Lehrmeister, die er im Französischen Sprachraum aufsuchte.]

Anmerkung in 2015: Dieser Unsinn kam von der ersten Person, welche mich 2003 in historischem Tanz unterwies, um meine beiden späteren Lehrer davon freizusprechen. Über alles was aus jener Ecke kam, wollen wir darüber hinaus den Mantel tanztechnischen Schweigens decken. Um die Eingangsfrage der Überschrift noch zu beantworten: Es kommt auf den Lehrer an, welcher historischen Tanz vermittelt. Es gibt im professionellen Bereich lehrende Tänzer, die gewissenhafte Quellenforscher sind. Die meisten der sogenannten "Barock"-Tanzgruppen sind jedoch mit äußerster Vorsicht als oberflächliches Possenspiel zu genießen. Um auf meinen zweiten Lehrer zurück zukommen, so klang dieser eher nach jener Secundärlitteratur, die von der Tanzforschung der 60er und 70er Jahre herausgegeben worden war. Nie habe ich ihn mit einem Reprint von Tauberts Werk in der Hand gesehen.


Zur Ehrenrettung der galanten Generation.