Vidi, audi, dixi.

- Allsonntäglich -

Nr. 15.


Anno '09.


Ausgaben:

Project „GalanteWelt“

Galante Peruque

Generalbaß-Musik

Lully – Corelli

Auf Heller & Pfenning

Schrot und Korn

Historischer_Tanz

Museumsbesuch

Galante Epoche?

Warum galante Welt

Wider das 'b'-Wort

Histor. Correspondenz

Messen & rechnen

Reenactment

Der Schreibmeister

Gutnachbarschaftlich

Künftige Erscheinung

Galante Reinlichkeit

Diktatur der Historiker

Der Teutsche Schreibmeister

Das 'b-Wort' historischen Handschriftenwesens lautet „Sütterlin“. Im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauches ist dies nicht zu überbietender Schwachsinn, weil die „Sütterlinschrift“ eine Schulanfängerschrift des frühen 20. Jahrhunderts gewesen ist. Sie ist eine von vielen Formen deutscher Schreibschriften. Dennoch benutzt die Allgemeinheit ihren Namen immer wieder als Synonym für deutsche Schrift schlechthin. Weil er nunmal eingängiger und bequemer ist, als die zutreffenden Begriffe „deutsche Schreibschrift“ und „Currentschrift“. Um dies gleich aus zuräumen: Ludwig Sütterlin entwickelte die „Sütterlin-Schrift“ im ausgehenden 19. Jahrhundert speciell für Kinderhände. Ein normaler Erwachsener hat sich im frühen 20. Jahrhundert, schon während der Jugendzeit, längst von den kindlich pummeligen Sütterlin-Kringeln verabschiedet, um eine schlankere, reifere Erwachsenenkurrent zu entwickeln.

Vereinfachender Sprachgebrauch ist, in vernünftigen Grenzen, absolut in Ordnung. Deshalb genügt es durchaus, von „Currentschrift“ zu sprechen. Um wirklich exact zu definiren, muß man jedoch von „deutscher Currentschrift“ sprechen, denn auch durchgezogene lateinische Handschriften - nämlich Cursivschriften - sind current-mäßig ausgeführte Schreibschriften. Das lateinische Wort currere bedeutet laufen,rennen, eilen. Tatsächlich war dies stets Kennzeichen durchgezogener Laufschriften, daß sie eben ein erhöhtes Schreibtempo ermöglichen. Das lateinische cursus aber meint den Lauf, den Lauf- bzw. Sturmschritt an sich. Womit wir bei der Malaise der Cursivschrift angelangt wären, deren Name im allgemeinen Sprachgebrauch ebenfalls fälschlich verwendet wird: Cursivschrift bezeichnet genau das gleiche, wie Currentschrift, nämlich eine durchgezogene Laufschrift. Die Schrägstellung ist in der Regel eine der Eigenschaften von Cursiv-/ Currentschriften, nicht aber Hauptwesensmerkmal! Im Französischen wird cursif übrigens völlig correct für durchlaufende/ fließende Schriften gebraucht. Daß aber Cursivschrift 'Schrägschrift' schlechthin sei, ist Unfug. Schräg gestellte Druckschriften ähneln einer Laufschrift ein wenig - nicht allein wegen ihrer Schrägstellung, sondern auch in den geschwungenen Unterlängen. Damit sind sie aber noch lange keine Cursiv- respect. Currentschriften, weil sie ja doch unterbrochen sind und keineswegs durchlaufen. Unser Sprachgebrauch kann hier nicht die Zunftsprache der Drucker sein:

„Der Setzer darf Divis/ Tentackel/ Aal und Schiffe/ viel kleine Fächelein/ darein er manche Griffe thut/ eh der Winckelhack mach die Columnen voll; Er weis was er vor Schrift zu jedem brauchen sol. Da siehstu Cicero/ Petit/ Garamond und Mittel/ Cursiv so viel Antiq Conon der Bücher Tittel ...“ (Formatbuch des 17. Jahrhunderts, von einem gewissen Herrn Wolfger)

„Cursiv“ ist hier nichts als Teutsches Druckerlatein. Gemäß definitorisch correctem abendländischem Sprachgebrauche, meint Cursivschrift eine lateinische Laufschrift, Currentschrift hingegen deutsche Laufschrift. Diese Definitionen sind sinnvoll, auch wenn beide, von der lateinischen Grundbedeutung her, vertauschbar sind. Für den Bereich des heiligen Römisch-Teutschen Reiches ist Hauptverkehrsschrift die Teutsche Current = Schrifft. Daneben wird auch die lateinische Cursivschrift, vor allem für lateinische Texte, benutzt. Innerhalb eines Currentschreibens werden Fremdworte stets in lateinischer Schrift hervor gehoben. Nimmt man dies in lateinischer Cursivschrift vor, ist das Endresultat 'weder Fisch noch Fleisch': Diese beiden Laufschriften 'beißen' sich, weil sie sich weder gleichen, noch voneinander hinreichend absetzten, sodaß ein Gesamteindruck von Kraut und Rüben entsteht. Aus diesem Grunde verwendet man, für lateinische Passagen, innerhalb der Teutschen Current, eine unterbrochene Schrägschrift. Correct nennt man diese Schrift Italique respective Italica.

„Italique, adj. c. [Italicus] bey den Buchdruckern Cursiv, geschobene Buchstaben.“ (Leonhard Frisch, Frantzösisch-Teutsches Wörterbuch, 1719)

Innerhalb des Teutschen Buchdruckerlateins functionirt der Begriff „Cursiv“ freilich, auch wenn er so grundfalsch ist. Man kann sich leicht denken, wie die löbliche Zunfftgemeynschafft der Teutschen schwartzen Kunste auf diesen Kloppser verfallen sei: Eben weil man in Teutscher Verkehrsschrift italique anstelle von cursiv verwendet, um die Teutsche Current nicht zu verhundtzen. Lateinische Cursivschriften werden im Römisch-Teutschen Reich hingegen relativ selten verwendet. Dies verleitet sogar 'Schriftexperten' dazu, in ihren 'Fachbüchern' die Behauptung auf zustellen, daß es im frühen 18. Jahrhundert noch keine ausgeprägte lateinische Laufschrift gegeben hätte. Diesen Oberschlauen sei einmal der Blick in Königin Sophie Charlottes Vollmacht empfohlen, welche sie im November 1701 für Leibnitz entwarf. Ihr handschriftliches Concept dazu befindet sich in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover: Der Text ist nicht allein durchgängig Französisch, sondern besteht gleichwohl in einer durchgezogenen cursif -Schrift - einer voll ausgeprägten, durchfließenden Laufschrift! Dies sei an dieser Stelle einmal als eines von vielen möglichen Beispielen genannt, um den Rahmen nicht zu sprengen. Von Sophie Charlotte (von Brandenburg-Preußen) ist bekannt, daß sie sich hauptsächlich Französisch äußerte - möglicherweise auch französisch dachte. Leibnitz verfaßte seine Bücher zumeist in der lateinischen Gelehrtensprache, doch dachte er offensichtlich Teutsch, wie sein Tagebucheintrag in Teutscher Currentschrift verrät:

„Hanover 3 Augusti 1696. Heute habe ein Tagebuch angefangen, umb Rechnung von meiner noch ubrigen Zeit zuhalten * Heut morgen hat von wegen des H Grafen von Plate der geheimte ... ** ... mir Nachricht geben, daß Churfürstl. Durchlaucht zu Braunschweig ...“

Dergleichen zu transcribiren, ist offen gestanden eine Zumutung. Oft legt man dem Transcribator eine erbärmlich schlechte Copie vor, sodaß er teils stundenlang an einzelnen Silben herum rätselt. Hinzu kommt, daß diese Arbeit auch noch erbärmlichst bezahlt wird. Die Autorin dieser Gazette pflegt alles das, was sich auf Anhieb nicht erschließt, zu überspringen. Man sollte seine Augen nicht unnötig martern. Auch eine moderne lateinische Handschrift, die halbwegs flüssig zu lesen ist, wird als Photocopie oft schwer entzifferbar. Wer das Original nicht herausgeben will, soll seinen Kram bitteschön behalten. - Kommen wir jetzt zu den Besonderheiten frühneuzeitlicher Handschriften: Am augenfälligsten ist das lange s, welches in der lateinischen Druckschrift folgendermaßen lautet:

ſribere (scribere) - italique: ſcribere

Dieses lateinische italique - ſ *** ähnelt dem in der Teutschen Currentschrift nicht wenig, nur daß die Unterlänge hier stets gerade herunter gezogen wird. Der linksseitige kleine 'Pickel', in der Mitte, ist möglicherweise als Überrest eines handschriftlichen Anstriches zu deuten. Historisch haben sich ja alle Druckschriften aus Handschriftvorlagen entwickelt. Diesen langen ſ-Formen begegnet man in der Regel zu Beginn einer Silbe, wobei zu berücksichtigen ist, daß es auch unechte Silben gibt (verwechſeln, verwechſlen). Es gibt da eine Vielzahl vertrackter Beispiele, die anzuführen, hier zu weit ginge. Bei der Stadt Dreßden kann man sich um 1700 den Streit sparen, obschon ein langes ſ darin enthalten ist: In der Lateinschrift ist die Ligatur „ß“ eine ſs-Verbindung, also doppel-s. Nicht aber in der Teutschen Current! Hier hat sich diese Ligatur aus einer geläufigen ſʒ-Combination des Spätmittelalters gebildet.**** Dergleichen Buchstabenverbindungen gibt es natürlich noch mehr:

ſſ (ss), ſt (st), ff (ff), fi (fi), fl (fl), ffi (ffi), ffl (ffl), ...

Sowohl die deutsche, als auch die übernationale lateinische Schrift, haben ästhetisch beträchtlich verloren, indem das traditionelle lange ſ aufgegeben wurde. Dies hängt maßgeblich mit den Ligaturen zusammen, welche davon abhängen. Ligaturen sehen nicht allein schön aus, sie fassen Einzelzeichen zu anschaulichen Bildern zusammen und verleihen dem Schriftbild eine griffige Structur, welche dem Auge bald vertraut ist. In der lateinischen Antiqua, Italica und Cursiva erfolgte dieser Todesstoß bereits im Verlaufe des 18. Jahrhunderts, in der deutschen Currentschrift erst mit den Reformen zur Zeit Bismarks: Um 1900 setzte sich immer mehr jener Zacken durch, welcher die alte Spacirstockform des ſ aus der Currentschrift verdrängte. Damit ging bereits damals eine Vielzahl von ſ-Ligaturen unter. Der nächste Stoß erfolgte mit der Rechtschreibreform um das Jahr 2000 herum, indem nämlich die Ligatur „ß“ ein ganzes Stück weiter zurück gedrängt wurde (dass, musste).***** Dieser Entwicklung kann eigentlich nur eine Tendenz zugrunde liegen: Das Documentiren einer sich zunehmend technisirenden Menschheit, innerhalb der Schriftbilder. In eine solche Welt fügen sich weder Menuet und Courante, noch fließende ſ-Ligaturen. Zum technisch gnadenlos zerhackten Bilde eines ligaturarmen, womöglich serifenlosen Textes, passen kalte, mit unschönen Zeichen beschmierte Betonklötze, absolut.****** Diese „coole“ Welt ist das absolute Gegenbild zur galanten Welt und fordert förmlich dazu heraus, Courante tanzen zu lernen. Denn dieser Tanz ist im 17./18. Jahrhundert Ausgangsbasis für ästhetisch saubere, fließende Tanztechnik. Die Parallele zwischen fließenden Ligaturen und dem Tanzen der Courante hat sich die Autorin nicht etwa aus den Fingern gesogen:

„... als wenn ein Dorff-Schulmeister seinen Schülern, ehe sie noch recht courant schreiben können, mancherley Fractur-Schrifften, grosse Buchstaben und künstliche Züge vorgiebet.“ (Tanzmeister Gottfried Taubert 1717)

Es fehlt in diesem Articel noch etwas Wesentliches: Die Fractur kennen wir zwar eher aus gedruckten Originalbüchern, doch stammt diese ja von spätmittelalterlichen Handschriften ab. Diese gebrochene Schrift, wie man so schön übersetzt, wird auch im frühen 18. Jahrhundert noch von einem guten Schreibmeister verlangt. Zu einem Document in Currentschrift gehört oftmals auch eine Überschrift in schön gestalteten Fracturbuchstaben dazu. Außerdem sind Versallen, schwelgerische Anfangscapitalbuchstaben, auch Initialen genannt, weitgehend üblich. Hier kann der Schreibmeister seine ganze Virtuosität beweisen, indem er complicirte Schwünge, sogenannte Züge einbaut, welche dem Laien wie Zauberwerk erscheinen. Davon sollte sich der Currentfreund jedoch genauso wenig entmutigen lassen, wie kickende Penäler von der 1. Fußballliga. Es gibt in der galanten Welt jede Menge Privatleute, welche eine sehr hübsche Current schreiben und teils auch recht nette Fracturen und Versallen hinzu fügen, denen sich ein Normalsterblicher nach zueifern getrauen kann.


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* Den Punct hat Leibnitz offensichtlich vergessen; in der Zeile darunter rückt er die Anfangszeile ein. Einige Substantive und Namen wirken wie klein ausgeschrieben, man kann aber vielleicht unterstellen, daß Leibnitz dies so nicht gemeint hat, sondern es vielmehr der nachlässigen Alltagsschrift entsprang.

** Titel und Name bei der nachlässigen Eilschrift schwer zu entziffern, zumal die Qualität des Abdruckes nicht gerade berauschend ist. Danach endet der Abdruck, bei der Zeile darunter sind die Unterlängen schon abgeschnitten.

*** Wer dieses Unicodezeichen nicht lesen kann, sollte sich neue Schriftfonts beschaffen (die Autorin verwendet hier gern „DejaVu“, weil es im www nicht allein kostenlos ist, sondern auch eine Vielzahl von Sonderzeichen enthält). Hilft auch dies nicht, ist des edelwerthen Lesers Programm wahrscheinlich uralt, wenn nicht der Rechner steinzeitlich.

**** Es gibt Schlaumeier, die das nicht glauben wollen, denen aber leicht geholfen werden kann, sobald die Autorin gewisse Copien von Originalen aus ihrem Archiv zurate zieht. Im Mittelalter ist das z schlicht ein s-Laut gewesen: „daz hat mir Reinhart getan“ (Fuchs Reinhart).

***** Consequent ist die deutsche Rechtschreibung damit trotzdem nicht: (1) „Du musst töten alle Lust.“ - (2) „Sei so lieb und gib mir ein Bier.“ - Wo ist da Logik bzw. Consequenz? Diese Beispiele zeigen doch, daß die deutsche Orthographie ganz gut ohne logische Consequenz functionirt. Wichtig für logisches Denkvermögen ist, etwa die Grundbedeutungen lateinischer Fremdworte zu kennen, welche der moderne deutsche Wortschatz vielfach verdunkelt.

****** In einer dermaßen kalten Welt kann sich unsere Jugend einfach nur noch sinnlos betrinken ... Vielleicht sollte man sich doch wieder mehr mit schönen Dingen umgeben. Es müssen ja nicht unbedingt Ligaturen sein. ☺

Verweise: Wer mehr Anregung sucht, sollte die Hauptseite galantewelt.de einmal durchsehen. Diese Seite ist durchgängig mit Fracturdrucktypen der Zeit um 1700 gestaltet und verwendet zudem zeittypische Satzspiegelmuster. Außerdem kommen auch immer wieder handschriftliche Beispiele vor. Darunter befindet sich auch ein Brief an den Berliner Oberbürgermeister. Zusätzlich hat die Autorin eigene Handschriftproben aus 9 Jahren heraus gesucht. Diese zeigen anschaulich, wie eine erwachsene Hand sich allmählich in die Current der Zeit um 1700 hinein entwickelt, wobei die Schrift zu Anfang durchaus etwas unbeholfen Kindliches zeigt. Der Text spricht zwar distancirt in der 3. Person, die Schreibhand ist jedoch der Autorin zueigen. Sobald man zur ich-Form übergeht, fängt man ja unwillkürlich an, subjectiv herum zu schwafeln, was an gegenwärtigem Orte nicht sei.


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